Hochsensible Menschen nehmen innere und äussere Reize wie durch einen Verstärker wahr. Sie nehmen nicht nur mehr Informationen wahr als andere, sondern verarbeiten sie auch noch tiefer, gründlicher und langsamer. Das kann zu Überforderungssymptomen in verschiedenen Lebensbereichen führen. Doch wenn Hochsensible ihre Veranlagung besser verstehen und konstruktiv damit umgehen lernen, kann aus Überforderungsgefühlen und Dauerstress auch Gelassenheit und hochsensible Kompetenz werden.
Das bcb nimmt sich dem Thema an und bietet am 21. August 2021 in Winterthur ein Tagesseminar zu dieser Thematik an. Das Seminar eignet sich für Betroffene wie auch für Normal-Sensible, die ihren hochsensiblen Partner, Familienangehörigen oder Ratsuchende besser verstehen möchten. Es werden keine Vorkenntnisse vorausgesetzt. Im Oktober wird die Thematik in einem Weiterbildungs-Wochenende für Beraterinnen und Berater vertieft. Da geht es dann ganz konkret ums Unterwegssein als Berater/in mit hochsensiblen Ratsuchenden. Dr. med. Doris Schneider kann aus einem grossen Wissens- und Erfahrungsschatz schöpfen.
Ursula Blatti hat ihr im Vorfeld einige Fragen gestellt:
Kannst du ein paar Worte zu deiner Person sagen?
Ich bin in der Schweiz aufgewachsen, lebe aber seit 23 Jahren in Deutschland. Ich bin verheiratet, wir haben zwei erwachsene Kinder. Seit 17 Jahren arbeite ich in eigener Beratungspraxis in Gailingen, nahe bei Schaffhausen. Ich biete Coaching, psychologische Beratung und Schulungen an. Schwerpunkte sind Themen wie Hochsensibilität, Resilienz, Gewaltfreie Kommunikation, Burnout, Berufungsfragen, Life-Balance und Stresskompetenz.
Wie kommt es, dass du als Referentin gerade mit dem Thema Hochsensibilität unterwegs bist?
Vor ca. 15 Jahren bin ich durch eine Kollegin eher zufällig auf das Thema aufmerksam gemacht worden. Sie hat mir damals eines der ersten deutschen Bücher ausgeliehen und gemeint, das könnte eventuell etwas für meine Klienten sein. Beim Lesen habe ich dann erstaunt festgestellt, dass das Thema – von dem ich vorher noch nie etwas gehört hatte – sehr wohl viele meiner Klienten betrifft, vor allem realisierte ich, dass es vieles beschreibt, was ich von mir selber kannte. Mir selber hat das Wissen um Hochsensibilität geholfen, mich selber besser zu verstehen, manches aus der Vergangenheit anders zu beleuchten und meinen Alltag hilfreicher zu gestalten.
Zu sehen, wie sehr es Betroffenen hilft, dieses Persönlichkeitsmerkmal benennen und verstehen zu können, bewegt mich immer wieder. Wenn Menschen mit Tränen in den Augen aussprechen: „Ich bin also doch nicht daneben! Es gibt wirklich auch andere, die so ticken! Kann man tatsächlich lernen, damit umzugehen?“, motiviert mich das, am Thema dranzubleiben und Seminare dazu anzubieten. Dass eine so starke Nachfrage nach dem Thema entstand, überrascht mich auch heute noch.
Was motiviert dich, ein Grundlagenseminar zu dieser Thematik zu halten?
Das Grundlagenseminar soll einerseits einen breiten Überblick über das Thema geben, anderseits dann auch ganz praktisch aufzeigen, was Hochsensible brauchen und wie sie lernen können, gut mit dieser Veranlagung umzugehen. Auch Nicht-Hochsensible, die den hochsensiblen Partner, die Kollegin, das eigene Kind oder ratsuchende Menschen besser verstehen wollen, profitieren von dem Seminar. Gerade Paaren empfehle ich unbedingt, dass beide am Seminar teilnehmen.
Wie kann es hochsensiblen Menschen gelingen, das Leben auf diesem schmalen Grat zwischen Unter- und Überstimulation zu balancieren?
Hochsensibilität kennen lernen und den eigenen Reiz-Stress-Pegel gut regeln lernen. Beides werden wir im Seminar ausführlich anschauen.
Welche Message möchtest du den Teilnehmenden des Seminartages unbedingt mit nach Hause geben?
Du bist genau so, wie du bist, geschaffen und gewollt. Hochsensibilität ist nicht ein Makel oder ein Klotz am Bein, sondern ein Persönlichkeitsmerkmal, das wunderbare Stärken beinhaltet, aber zugegebenermassen auch manches im Leben etwas schwieriger macht. Wenn wir lernen, gut damit umzugehen, können wir ebenso leistungsfähig und lebensfreudig sein wie die restlichen 80% der Menschheit.
Du arbeitest auch als Coach in deiner Praxis mit hochsensiblen Menschen. Ist das ein Unterschied für dich, ob dein Gegenüber hochsensibel ist oder nicht?
Ja, definitiv. Hochsensible nehmen ja viel mehr wahr, auch sich selber. Sie können sehr tief über sich selber nachdenken und reflektieren. Das ist in der Beratung sehr hilfreich, kann aber auch mal zur Stolperfalle werden, wenn Worte auf die Goldwaage gelegt werden. In einer Beratungssituation macht sich der Klient verletzbarer, das müssen wir als Berater von HSP im Hinterkopf behalten.
Haben Hochsensible besondere Bedürfnisse, wenn sie Seelsorge oder Beratung in Anspruch nehmen? Vielleicht auch besondere Herausforderungen?
HSP möchten gehört, verstanden und wertgeschätzt werden in der Beratung – wie alle andern auch. Ein HSP fühlt sich aber schneller verletzt durch eine falsche Wortwahl oder spürt auch gut, ob der Berater einfach „professionell freundlich“ ist oder es wirklich so meint.
Ist der Berater selber hochsensibel, bringt er diese Fähigkeiten oft automatisch mit. Ein nicht-hochsensibler Berater bringt ja oft auch eine hohe Sensibilität mit, sonst hätte er sich wahrscheinlich nicht für diese Tätigkeit entschieden. Als nicht selber Betroffener ist es aber sicher wichtig, sich gut mit der Thematik auseinander zu setzen.
Wenn auf der andern Seite Seelsorger/innen hochsensibel veranlagt sind – was beobachtest du da für Herausforderungen, aber auch für Chancen im Unterwegssein mit Menschen?
Für einen erfahrenen Berater ist es aus meiner Sicht definitiv ein Vorteil, selber hochsensibel zu sein. Als HSP-Berater nehme ich vieles „zwischen den Zeilen“ wahr und kann damit arbeiten.
Auf der anderen Seite besteht immer auch die Gefahr, sich als Berater zu sehr „hineinziehen“ zu lassen. Und statt zu begleiten mitzuleiden, den Abstand zu verlieren oder sich selber zu überlasten. Als HSP-Berater ist es enorm wichtig, eine gute Life-Balance einzuüben und immer wieder zu spüren, wie es mir selber geht… und auch zu schauen, was mir selber gut tut in der Beratungsarbeit und was nicht.
Übrigens gibt es unter Beratern, Therapeuten und Coaches einen sehr viel höheren Anteil an Hochsensiblen als den sonst üblichen 15-20%. Hochsensible suchen sich also überdurchschnittlich oft Beratungstätigkeiten, auch wenn sie nicht immer wissen, dass sie hochsensibel sind. Das ist auch nicht erstaunlich, da sie durch ihre Veranlagung enorm viel mitbringen, um erfolgreich mit Menschen arbeiten zu können.
Vielen Dank für die Beantwortung der Fragen. Wir sind gespannt, mehr zum Thema von dir zu erfahren!
Weitere Infos zu den genannten Seminaren:
Grundlagentag “Hochsensibel leben”
Weiterbildungsseminar “Beratend unterwegs mit hochsensiblen Menschen”