Im November hat unser bewährter Grundkurs Lebenskompetenz in Zürich wieder begonnen. Am ersten Tag geht es um den Menschen: Wir machen uns Gedanken über die Ganzheitlichkeit des Menschen und wie die Bibel den Menschen sieht. Davon hängt ab, was wir unter Seelsorge verstehen. Und: Es hat auch etwas mit Weihnachten zu tun!
Folgende vier Begriffe sind für die biblische Betrachtung des Menschen zentral. Die verschiedenen Begriffe beschreiben dabei nicht einzelne „Teile“ des Menschen, vielmehr wird der Mensch als ganzer aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet – so wie ein Kristall von verschiedenen Seiten betrachtet werden kann, dabei aber immer der eine, ganze Kristall bleibt.
- näphäsch – „Seele“: Der Mensch ist ein bedürftiges Wesen.
- basar – „Fleisch“: Der Mensch ist ein leibliches und damit begrenztes Wesen.
- ruach – „Geist“: Der Mensch als ein mit Kreativität und Tatkraft befähigtes Wesen.
- leb – „Herz“: Der Mensch ist ein vernunftbegabtes Wesen.
Schon diese kurze Übersicht macht deutlich, dass die deutsche Übersetzung der Begriffe in uns oft andere Vorstellungen wachruft als das, was die Bibel damit meint. Zwei Begriffe wollen wir hier noch etwas näher betrachten: näphäsch und basar.
näphäsch – der bedürftige Mensch
Gott blies dem Menschen den Lebensatem ein, und so wurde er ein lebendiges Wesen (wörtlich: eine lebendige näphäsch, 1Mo 2,7). Der Mensch hat nicht eine näphäsch, sondern er ist näphäsch. Dabei kann der Mensch nicht aus sich selber leben. Was ihn lebendig macht, empfängt er.
näphäsch kann sehr konkret „Kehle“ bedeuten, denn der Mensch ist konkret angewiesen auf Nahrung (Jes 29,8, Ps 107,9; 4Mo 11,6) und auf Luft. Wenn ihm das Wasser bis zum Hals steht, ist seine Lebendigkeit bedroht (Ps 69,2; vgl. Ps 124,4f.). Auch die Halsschlagadern verlaufen im Halsbereich! Wenn man dem Menschen die Kehle zudrückt oder die Halsschlagader verletzt, dann verlässt ihn seine Lebendigkeit und er ist keine lebendige Seele mehr.
näphäsch ist auch mit seelischen Empfindungen verbunden, denn der Mensch braucht mehr als Nahrung. Die näphäsch hat Sehnsucht und Verlangen nach Verschiedenem (vgl. 2Sam 3,21; Spr 21,10; Ez 24,25); sie kann traurig sein (Jer 13,17), gequält und bedrängt (Hi 19,2), erschrocken, verzweifelt, unruhig, erschöpft, wehrlos, verbittert, etc. (vgl. Ps 6,3; 42,6f.; Jona 2,8). Sie freut sich aber auch und jubelt über Jahwe (Ps 35,9).
Mit näphäsch wird der Mensch also beschrieben als einer, der nicht aus sich selber leben kann. Und so ist er auch zutiefst angewiesen auf den Kontakt mit der Quelle des Lebens selber: auf Gott. So sagt der Beter in den Psalmen: Meine näphäsch dürstet nach dem lebendigen Gott, sie hofft und harrt auf ihn (Ps 33,20; 42,2f., 130,5f.; Jes 26,9). Gott hat den Menschen geschaffen und ihn durch die Einhauchung seines Atems zu einer lebendigen näphäsch gemacht (1Mo 2,7; Jer 38,16; Ps 104,30, Hi 33,4), er kann diese Lebendigkeit erhalten – auch über den Tod hinaus (vgl. Ps 73,23-26).
basar – der hinfällige Mensch
Zum Menschen gehört basar: Fleisch. Der Mensch ist körperlich und damit auch begrenzt. Mit basar wird der Mensch unter dem Aspekt seiner Hinfälligkeit und Schwäche beschrieben: Wehe dem Mann, der auf Menschen vertraut und basar zu seinem Arm (= zu seiner Stärke) macht (Jer 17,5). Und schwach ist der Mensch auch in der Treue und dem Gehorsam Gott gegenüber (vgl. Ps 65,3-4; 5Mo 5,26). Gott dagegen ist nie basar. Gottes Treue, seine Gnade und Wahrheit, stehen in direktem Gegensatz dazu: Auf Gott hoffe ich und fürchte mich nicht, was kann basar mir tun? (Ps 56,5, vgl. 2Chr 32,8). In diesem Zusammenhang ist auch die Warnung Jesajas zu verstehen, sich nicht auf Ägyptens Streitmacht zu verlassen: Ägypten ist Mensch und nicht Gott, seine Rosse sind Fleisch und nicht Geist! (Jes 31,3). Daran schliesst Paulus direkt an, wenn er uns aufruft, nicht fleischlich, sondern geistlich zu wandeln (vgl. Röm 8,4-9)!
Als die Zeit erfüllet war…
Vor diesem Hintergrund leuchtet neu auf, wie unergründlich und unfasslich es ist, was das Johannesevangelium beschreibt: Am Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und das Wort war Gott. […] Und das Wort wurde Fleisch und wohnte unter uns, und wir schauten seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit.
Der Gottessohn kam ins Fleisch, er gab sich hinein in unsere leibliche, materielle Begrenztheit: Er wurde geboren und musste zuerst heranwachsen, er wurde müde und musste sich ausruhen, er konnte nicht überall gleichzeitig sein und er konnte getötet werden.
Als Mensch war er auch bedürftig: hilflos und angewiesen auf den Schutz seiner Eltern. Er musste essen und trinken, er freute sich und weinte. Er fürchtete sich vor dem Leiden und sehnte sich nach dem Beistand seiner Jünger. Er gab sich in unsere Nöte hinein. Ja, er wurde ganz und gar Mensch – mit einem Unterschied: Er war ohne das, was uns zerstört! Er war ohne Sünde (vgl. Röm 8,3-4; Phil 2,6-8; Hebr 4,15). So finden wir in ihm das Leben, das bleibt! Er ist das Leben, und wer den Sohn hat, hat das Leben, auch wenn er stirbt (Joh 11,25-26). Oder wie Paulus es beschreibt: Was wir jetzt leben in unserer vergänglichen, hinfälligen Leiblichkeit leben wir im Glauben an den Sohn Gottes, der in uns lebt, der uns geliebt und sich für uns hingegeben hat (Gal 2,20).
Im Weihnachtslied „Dies ist der Tag den Gott gemacht“ heisst es in der 3. Strophe:
Wenn ich dies Wunder fassen will,
so steht mein Geist vor Ehrfurcht still;
er betet an, und er ermisst,
dass Gottes Lieb unendlich ist.
Autorin: Monika Riwar, Fachliche Leitung, Theologin, Ausbildnerin und Supervisorin beim bcb