Seelsorge? Brauch ich nicht!
«Ich dachte, Seelsorge sei etwas für schwache Menschen, die ihr Leben nicht auf die Reihe kriegen. Mein Verständnis von Seelsorge war, dass da Menschen hingehen, die eigentlich schon aufgegeben haben oder sich mit ihrer Situation abgefunden haben. Und nun brauchen sie halt jemanden, der sie bemitleidet oder ein wenig tröstet. Für mich war Seelsorge, besonders auch im Kontext der Gemeinde, ein Beweis des Unglaubens. Ich dachte, wenn wir wirklich Glauben hätten, bräuchten wir keine Seelsorge. Nun: Ich habe herausgefunden, dass das, was ich soeben beschrieben habe, mit echter Seelsorge herzlich wenig zu tun hat.» Dieses Bild von Seelsorge ist gar nicht so selten. Doch Seelsorge ist vielfältig.
Seelsorge hat viele Gesichter
Auch wenn das Wort «Seelsorge» in der Bibel nicht vorkommt, begegnet uns Seelsorgerliches auf Schritt und Tritt: Die Bibel zeigt uns nicht «Glaubenshelden», sondern ganz normale Menschen mit all ihrer Bedürftigkeit und Begrenztheit. So entdecken wir Seelsorgerliches, wenn wir beobachten, wie Jesus mit den Menschen umgeht, oder wie Gott seinem Volk begegnet. Auch die Gemeinschaft der Christen lebt, seit es Gemeinde gibt, ganz wesentlich von der gegenseitigen Seelsorge. Paulus legt uns sogar eine seelsorgerliche Grundhaltung ans Herz: «Lasst alles geschehen zur Erbauung» (1. Korinther 14,26). 1. Thessalonicher 5,14 umschreibt zusammenfassend, was zu seelsorgerlichem Handeln gehören kann: «Weist die Unordentlichen zurecht, tröstet die Kleinmütigen, tragt die Schwachen, seid geduldig mit jedermann.» (Lutherübersetzung). Als Unordentliche (griech. ataktos) werden wir beschrieben, wenn unser Leben aus dem guten Rhythmus gerät und dadurch Lasten in unserem Leben entstehen. Hier braucht es Feedback und Werbung dafür, das Leben wieder zu ordnen. Kleinmütige (griech. oligopsychos, Kleinseelchen) brauchen nicht Zurechtweisung, sondern Stärkung in ihrer Mutlosigkeit, dass sich ihr Blick wieder weitet. Als Schwache (griech. asthenos) werden wir angesprochen, wenn wir an unsere Grenzen stossen, die wir nicht einfach per Willensentscheid aufheben können. Hier brauchen wir Unterstützung. Und etwas brauchen wir alle: Geduld – denn die meisten Prozesse in unserem Leben dauern länger als wir denken. Alle Veränderung braucht Zeit.
Seelsorge braucht Kompetenz
1. Thessalonicher 5,14 beschreibt Seelsorge nicht abschliessend, doch es wird deutlich: Wer Seelsorge tun will, braucht die Fähigkeit einzuschätzen: Habe ich – mit den biblischen Worten gesprochen – einen Ataktos oder einen Asthenos vor mir? Nicht dass wir den Ataktos tragen und den Asthenos zurechtweisen. Diese Unterscheidung ist manchmal gar nicht so einfach. Kenntnisse, was zu unserem Menschsein gehört, sind hier unverzichtbar. Zudem braucht die Seelsorgeperson methodische Kenntnisse, insbesondere Gesprächskompetenz. Z.B.: Wie geht «zurechtweisen», ohne den Menschen zu beschämen oder in seinem Selbstwert zu verletzen; wie funktioniert «unterstützen», so dass ein Veränderungsprozess in Gang kommen kann – ohne den anderen zu entmündigen. Oder: Wie handle ich tröstend, ohne die Not eines Menschen zu bagatellisieren, weil ich selbst die Situation gar nicht so schlimm finde oder sofort sehe, was doch möglich wäre?
An diesem Punkt macht Paulus uns auf eine weitere wichtige Kompetenz für Seelsorgende aufmerksam: Die Fähigkeit und Bereitschaft, sich selbst zu reflektieren.
Den Galatern empfiehlt er: Jeder soll sein eigenes Tun überprüfen, ob es vor Gott bestehen kann (Galater 6,4), denn wenn jemand meint er sei etwas, obwohl er doch nichts ist, betrügt er sich selbst (Galater 6,3). Einige hielten sich offenbar für bessere Menschen und Christen. Wer so in Bezug auf die eigene Person blinde Flecken hat, steht in der Gefahr, Seelsorge als ein Machtinstrument zu missbrauchen, um den eigenen Selbstwert zu heben.
Seelsorge geht mit dem anderen in einer Haltung von Respekt und Geduld um, die Bibel nennt es Sanftmut. Und wo Seelsorger und Seelsorgerinnen die eigenen Abgründe wahrnehmen (vgl. Galater 6,5), sind sie sich bewusst, dass auch sie ganz und gar aus der Vergebung Gottes leben; dass auch sie auf Sanftmut und Barmherzigkeit anderer angewiesen sind. So ist die Seelsorgeperson nicht der bessere Mensch, der Ratsuchenden unterstützt, sondern wird in ihrer Begrenztheit wiederum von anderen geduldig getragen (vgl. Galater 6,2).
Ein Beispiel: In der Seelsorge Gottes
Die Erzählung von Elia in 1. Könige 19 veranschaulicht, was Seelsorge bedeuten kann. Elia fällt emotional in ein tiefes Loch, in das auch sein Glaube mit hineingerissen wird. Er stellt alles in Frage: sich selbst, seinen Dienst – was hat das alles gebracht, was hat er Gott gebracht?! Er läuft weg
in die Wüste hinein und weiss nicht, was werden soll. Gott begegnet Elia zutiefst seelsorgerlich. Zuerst das unmittelbar Notwendige: essen, trinken, schlafen. Dann erhält Elia Zeit, wo er nicht «muss», er findet im Laufen einen Rhythmus. Am Berg Horeb ist der Moment gekommen, wo Gott fragt: Elia, was tust du hier? Und Elia schüttet sein Herz aus, weil jemand fragt, zuhört, ohne Ratschläge zu erteilen. In der weiteren Begegnung mit Gott erfährt Elia eine Klärung seiner Vorstellung, wie Gott doch handeln müsste, nämlich machtvoll und kräftig (Feuer, Sturm, Beben).
Sein Gottesbild erfährt eine Erweiterung: Gott begegnet ihm unterwartet leise. Und noch immer hört Gott zu, was Elia zutiefst bewegt und erschüttert. Er fragt ein zweites Mal: Elia, was tust du hier? Offenbar ist Geduld gefragt. Denn nur so wird auch ein Blickwechsel möglich, erst jetzt stösst Gott neue Gedanken an: Du bist nicht als einziger übriggeblieben; dein Einsatz ist nicht wirkungslos, auch wenn du dir vielleicht einen anderen «Erfolg» gewünscht hättest (vgl. V18). Elia wird noch einmal beauftragt und damit auch gewürdigt. Zugleich gesteht ihm Gott seine Begrenzung zu: Elia darf sein Amt an Elisa weitergeben (vgl. V19ff.).
Chancen und Grenzen von Seelsorge
Gerade die Erzählung von der Seelsorge Gottes mit Elia zeigt, dass Seelsorge nahe an andere Formen der Hilfe stösst: Wo Menschen z.B. depressiv erkranken, braucht es über die seelsorgerliche Begleitung hinaus auch die Unterstützung einer psychiatrischen oder psychotherapeutischen Fachperson. Es ist sinnvoll, verschiedene Formen der Hilfe zu unterscheiden:
Seelsorge als Begleitung: Sie legt den Fokus darauf, zuzuhören und zu verstehen; sie will emotional beistehen, sie gibt Anregung und hilft zu reflektieren; sie bietet an, die Gottesbeziehung und die Perspektive des Glaubens mit einzubeziehen. Gerade in Krisenzeiten, die einfach zum Leben gehören, kann begleitende Seelsorge eine Rückendeckung bieten.
Seelsorge als Beratung unterscheidet sich in ihrer Dynamik von der Begleitung: Sie bietet einen strukturierten, methodisch gestalteten Problemlöseprozess an, durch den Eigenbemühungen der ratsuchenden Person unterstützt und die Kompetenzen zur Bewältigung anstehender Aufgaben und Probleme verbessert werden. Seelsorge bleibt sie hier insofern, dass die ratsuchende Person immer auch in ihrer Beziehung zu Gott wahrgenommen wird. Die Seelsorgeperson in der Beratung braucht vermehrte Kenntnisse über das Erleben und Verhalten des Menschen, über mögliche Bewältigungsstrategien und über die Gestaltung förderlicher Beratungsbeziehungen. Und sie sollte fähig sein zu beschreiben, wie sie methodisch arbeitet und warum.
Die ärztliche (durch einen psychiatrischen Facharzt) und psychologische (durch einen in Psychotherapie ausgebildeten Psychologen) Psychotherapie kommt da zum Tragen, wo eine psychische Erkrankung oder komplexe Blockade in der Gestaltung des alltäglichen Lebens vorliegt.
Gerade wenn Christen eine Psychotherapie oder eine psychiatrische Unterstützung brauchen, kann begleitende Seelsorge mittragen und mitunterstützen. Wir brauchen Menschen an unserer Seite, wir brauchen Ermunterung, Fürbitte, Zuspruch – ein Gegenüber, das uns hört.
In den Gemeinden geschieht gute Seelsorge nicht nur durch Personen, die ausgebildet sind. Vielmehr sind es Menschen, die Basiskompetenzen entwickelt haben: Sie haben Lebenserfahrung und damit auch Menschenkenntnis; sie haben die Fähigkeit zuzuhören und geben nicht ungefragt Rat; und sie haben keine Machtansprüche: Sie fordern keinen Gehorsam, sondern belassen die Verantwortung für das eigene Leben beim Gegenüber.
Wer aber eine Seelsorgeund Beratungsaufgabe gezielt anstrebt und anbietet, sollte sich auch entsprechend bilden und mindestens eine Basisausbildung im Sinne begleitender Seelsorge absolvieren.
Müssen Seelsorgepersonen vergleichbare Situationen erlebt haben wie ihr Gegenüber?
In der Seelsorge geht es immer um Vertrauen und um eine tragende Beziehung, die offenes Reden ermöglicht. Hat die Seelsorgeperson Vergleichbares erlebt, kann dies Vertrauen wecken: ‘Sie weiss, wie das ist’. Doch gerade hier ist von der Seelsorgeperson ein umso höheres Mass an Selbstreflexion und Achtsamkeit gefordert: Das Gegenüber mag Ähnliches erlebt haben, aber nie das Gleiche, denn
sie ist eine andere Person, ihre Lebensgeschichte und die Umstände sind nicht identisch, und sie hat Eigenverantwortung für ihr Leben. Eine gelingende Beziehung im Seelsorgeprozess hängt nicht von einer gemeinsamen Erfahrung ab, sondern von zugewandter Empathie und Resonanz im Gespräch.
Die Hauptaufgabe in der Seelsorge bleibt:
«Wer antwortet, ehe er gehört hat, dem ist’s Torheit und Schande» (Sprüche 18,13). Die Fähigkeit, gut hinzuhören und Grundkenntnisse zu haben darüber, wie wir als Geschöpfe Gottes funktionieren, ist wichtiger als Gleiches erlebt zu haben.
AUTORIN
Monika Riwar, Evang. Theologin, Fachliche Leitung der Seelsorgeausbildung bcb Bildungszentrum Christliche Begleitung & Beratung. Seit über 25 Jahren tätig als Ausbildnerin beim bcb und als Beraterin und Supervisorin in eigener Praxis. www.bcb-schweiz.ch , www.riwarberatung.ch.
Erschienen in der Infozeitschrift von Glaube und Behinderung im Oktober 2023.