Zuerst erschienen in einer gekürzten Version im IDEA Magazin 18.2024

IDEA: Welche Frage zum Thẹma Vergebung beobachten Sie am häufigsten in christlicher Beratung und Seelsorge?

Monika Riwar: Es beschäftigt viele, wie man „richtig“ vergibt. Als Christ wissen wir, dass wir vergeben sollen – doch von Herzen zu vergeben ist meist nicht so einfach. C. S. Lewis sagte einmal: „Jeder hält Vergebung für eine schöne Idee, bis er etwas zu vergeben hat.“ Es geht darum zu verstehen, dass vergeben mehr ist als ein Willensentscheid, es ist auch ein innerer Weg. Die Sehnsucht ist letztlich, dass wir zur Ruhe kommen.

Der wohl berühmteste Satz in der Bibel zur Vergebung stammt von Jesus am Kreuz: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Was lernen wir daraus zur Vergebung?

Schuld und Vergebung ist in der Bibel mehr als ein psychologisches Geschehen. Vergebung steht also nicht in erster Linie als geistig-psychologischer Prozess im Zentrum, sondern sie hat über mich als konkrete Person hinaus eine Auswirkung. Sie unterbricht die zerstörerische Wirkung von Schuld und Sünde.

Der biblische Mensch hat ein tiefes Bewusstsein dafür, dass Sünde über die bewusste einzelne Tat hinausgeht und eine das Leben bestimmende Macht sein kann: Durch sie ist die Gottesbeziehung gestört, das menschliche Leben ist gefährdet und die Gemeinschaft zerrüttet.

Nur Gott kann diese Schuld vergeben und so das Zerstörte wieder heilen. Im Alten Testament hat das einzige eigentliche Wort für Vergebung (slḥ) immer Gott als Subjekt. Er bewirkt, dass Schuld ihres Gewicht verliert. Es gibt noch eine Reihe anderer Worte, die damit verbunden werden, wie: Schuld hinweg nehmen, Sünde vorbeigehen lassen, abwaschen, der Schuld nicht mehr gedenken, nicht anrechnen u.a. So heisst es zum Beispiel in Ps 103,12: er lässt unsere Schuld so fern von uns sein, wie der Osten fern ist vom Westen, das heisst: er vergibt. Oder das seelsorgerliche Bild in Mi 7,19: er wirft unsere Schuld ins tiefste Meer. Das hilft mir im Umgang mit eigener Schuld immer sehr: Was Gott versenkt hat, bleibt versenkt, das holt der nicht mehr hervor. Und ich muss es auch nicht mehr hervorholen! „Fischen verboten“.

Verbunden mit dieser Vergebung Gottes ist die Sühne: Gott schafft Sühne und vergibt. Und da sind wir im Neuen Testament bei Jesus. Er hat die Vollmacht, Gottes Vergebung zuzusprechen: Deine Schuld ist dir vergeben (z.B. Mk 2,4), weil er am Kreuz diese Zusage einlöst: Er trägt am Kreuz unsere Schuld, er sühnt durch seinen Tod unsere Schuld und in ihm sind wir versöhnt mit Gott (2. Kor 5,18-20).

Und in seinem Gebetsruf am Kreuz kommt diese Vollmacht zum Ausdruck: Vater, vergib ihnen, sie wissen nicht, was sie tun! Er bittet hier darum, dass Gott diese Schuld nicht auf der Stelle richtet, sondern dass er den Raum zur Umkehr jetzt erst recht gewährt, weil Jesus für die Menschen stirbt.

Jesus lehrt seine Jünger gemäss Matthäus 6 beten: „Vergib uns unsere Schulden, wie auch wir unseren Schuldnern vergeben haben“ und sagt gleich darauf: „Denn wenn ihr den Menschen ihre Vergehungen vergebt, so wird euer himmlischer Vater auch euch vergeben; wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, so wird euer Vater eure Vergehungen auch nicht vergeben.“ In Lukas 17,3 wiederum spricht Jesus von Reue als Bedingung zur Vergebung: „Wenn dein Bruder sündigt, so weise ihn zurecht, und wenn er es bereut, so vergib ihm!“ Gilt es nun zu vergeben, ohne dass einem das Gegenüber darum bittet?

Das Unser Vater ist schon überraschend: Dass im Zentrum des Gebets plötzlich ich als Betende im Blick bin, ich mit meiner Bereitschaft Vergebung zu leben. Es ist Gott so wichtig, dass wir den zerstörenden Zyklus „Du hast mir weh getan, ich tue dir weh“ unterbrechen. Oder auch die Hass-Gefangenschaft beenden: „Du hast mir weh getan, und weil ich dagegen nichts machen kann, hasse ich dich, hasse ich diese Welt und letztlich mich selbst“!

Sollen wir den Weg des Vergebens beschreiten auch ohne vorangehendes Eingeständnis von Schuld und Bitte um Vergebung? Ja, ich bin überzeugt, dass es soweit geht –weil Gott uns in die Freiheit führen will.

Allerdings erschwert es das Vergeben, wenn jemand seine Schuld nicht eingesteht, vielleicht nicht einmal einsieht. Reinhard Tausch, der als einer der ersten den psychologischen Prozess des Vergebens erforscht hat, nennt u.a. folgende Faktoren, die das Vergeben erschweren:

  • wenn der andere seinen Fehler nicht einsieht und nicht eingesteht oder keine Wiedergutmachung anbietet;
  • wenn der andere sein verletzendes Verhalten nicht ändert;
  • wenn die Tat des anderen bleibende belastende Konsequenzen hat.

Wenn jemand Reue zeigt, also anerkennt und es auch ausdrückt: Ich habe dir Unrecht getan und dich damit verletzt, das tut mir leid, das erleichtert es massiv, den inneren Schmerz zur Ruhe zu bringen oder die Verbindung zu diesem Menschen wieder herzustellen.

Fehlt dies, ist es Gott sei Dank trotzdem möglich einen Weg zu gehen, damit ich nicht Gefangene bleibe meines Zorns und meines Hasses. Und hier ist wichtig zu verstehen, dass dies ein langer Prozess sein kann.

Wie merke ich, ob ich wirklich allen Mitmenschen vergeben habe?

Wenn ein Mensch sich das fragt, hat er den Sinn des Vergebens nicht verstanden. Es geht hier nicht um das perfektionistische Einhalten einer Gottes-Regel, sondern um eine Lebenshaltung. Vergeben kann ein langer Weg sein, und vielleicht gelingt es nicht, dass etwas 100% zur Ruhe kommt und nie mehr auftaucht in meinen Gefühlen oder in meinem Herzen. Aber das trägt Gott mit, er trägt mich. Auf die Füsse treten, würde mir Gott allerdings, wenn ich sage: „Vergeben? Der Person? Ganz sicher nicht, das hat sie nicht verdient! Dann wäre ich der Verlierer, dann würde ich ja das Unrecht gut heissen, dann…“

Vergeben ist nicht Schwachheit – es ist eine Herzensanliegen Gottes! Und es kann eine grosse Hilfe sein, wenn wir uns bewusst machen: Unrecht, das noch nicht geklärt werden konnte, dürfen wir und sollen wir ihm überlassen, bei Gott ist es gut aufgehoben. Er wird zu seiner Zeit Gerechtigkeit schaffen, die heilend ist – spätestens, wenn wir ihn von Angesicht zu Angesicht sehen.

Ich denke an eine Frau, die eine konfliktreiche Geschichte mit ihrer Mutter hatte. Als Tochter hatte sie lange um die Anerkennung der Mutter gekämpft, es gelang nicht – es war eine Geschichte wiederkehrender Verletzungen. Schliesslich ging die Frau auf Distanz. Sie hat in Seelsorge und Beratung einen Weg gemacht, auf dem sie die Mutter „loslassen“ konnte: Der Zorn, der Hass – auch auf sich selbst – kam immer mehr zur Ruhe. Unter anderem konnte sie auch die Herkunftsgeschichte der Mutter immer klarer betrachten und so das Verhalten der Mutter ein Stückweit einordnen. Das Verhalten der Mutter blieb aber unverändert verletzend. So blieb sie als Tochter auf Distanz, sie hätte sich etwas anderes gewünscht. Und doch gab es Hoffnung in ihr: „Vielleicht können wir den Konflikt erst bei Jesus klären. Bis dann lasse ich es in seiner Hand. Gott kennt meine Mutter, da muss er schauen.“

Ist das Vergeben, „reicht“ das? Es ist das, was hier und heute möglich ist – und es ist genug. Ein wichtiger Teil des Vergebungsprozesses ist der Verzicht auf Rache und Hass. Wenn nur schon das gelingt, ist so viel Heilvolles gewonnen.

Noch ein Satz von Jesus: „Wem aber wenig vergeben wird, der liebt wenig“, sagt Jesus. Was fördert unsere Vergebungsbereitschaft?

Je mehr ich erfassen kann, was es bedeutet, dass Gott mir meine Schuld vergeben hat, dass ich geliebt und angenommen bin, desto freier werde ich zu vergeben, auch da wo jemand seine Schuld (noch) nicht einsieht. Die englische Sprache kann das schön ausdrücken: „I’m accepted, I’m forgiven, I am loved by the true and living God.“

Es beinhaltet auch die Aussöhnung mit dem eigenen Leben: Meine Gestaltungsmöglichkeiten einzusetzen und die Menschen und Dinge zu sehen, die mir allem zum Trotz geschenkt sind.

Das ist es, was für mich in den Worten von Joseph zu seinen Brüdern zum Ausdruck kommt: „Ihr hattet Böses beabsichtigt, Gott aber hat es zum Guten gewendet“ (1. Mo 50,20). Das Gute das Joseph erhalten hat, war „anderes Gutes“, seine Heimat hat er nie wieder gesehen, die verlorenen Jahre konnte auch er nicht mehr aufholen, die geweinten Tränen, blieben geweint; die erlittenen Schmerzen blieben Schmerzen – doch allem zum Trotz hat Gott neues Gutes geschenkt und Joseph hat seinen Brüdern vergeben.

Umgang mit Schuld und Reue betrifft die christliche Gemeinschaft. Das spricht in Matthäus 18,15-18 an.

Bei dieser Anweisung Jesu zum Umgang mit dem Bruder, der sündigt, liegt der Hauptfokus meines Erachtens auf der Konfliktklärung mit dem Ziel Versöhnung: Wenn ein Bruder, eine Schwester mir gegenüber schuldig wird, soll ich das Gespräch suchen – statt üble Nachrede, zurückschlagen, unversöhnlicher Streit. Dies wird in Eph 4,26-27 direkt aufgegriffen: Wenn ihr zürnt (weil ein Bruder ungerecht gegen dich gehandelt hat), so sündigt dabei nicht (werde in deinem Zorn nicht selbst zu jemandem, der Unrecht tut). Lasst die Sonne nicht untergehen über eurem Zorn (mit anderen Worten: Kläre den Konflikt rechtzeitig – wie das geht, wird als Fähigkeit offenbar vorausgesetzt) und gebt dem Teufel keinen Raum (indem ihr unversöhnlich im Streit verbleibt).

Die Aussage in Mt 18,16 rechnet durchaus damit, dass das nicht immer so einfach ist: Wenn dein Bruder nicht hört, braucht man einen Vermittler. Und manchmal gelingt es auch dann nicht, dass man wieder eine Übereinstimmung findet und sich versöhnen kann.

Mt 18,15-18 beinhaltet noch weitere Aspekte zur Frage, wie wir als Gemeinde auf uneinsichtiges Fehlverhalten von Brüdern und Schwestern reagieren sollen. Dies sorgfältig zu betrachten, würde den Rahmen dieses Interviews aber sprengen.

Gehören Vergebung und Versöhnung immer zusammen?

Ich denke, das Ziel von Vergebung ist die Versöhnung. Dabei ist Vergebung mein Prozess, wenn mir Unrecht getan wurde; für die Versöhnung braucht es beide Parteien. Wenn das nicht gelingt, weil zum Beispiel eine Partei keine Schuldeinsicht hat oder die Vergebung verweigert, ist das sehr schwer. Ich erlebe in Seelsorge und Beratung ganz direkt, wieviel Not das für einen Menschen bedeutet, wenn Versöhnung nicht möglich ist, weil die andere Person auf Distanz geht.

Die Bibel nimmt deshalb auch beide Parteien in Pflicht. Mt 5,23-24 spricht den Unrecht-Täter an: Wenn du eine Opfergabe im Tempel darbringst, und da kommt dir in den Sinn, dass dein Bruder etwas gegen dich hat – gemeint ist: etwas gegen dich in der Hand hat, weil du ihm Unrecht getan hast – so lass deine Gabe vor dem Altar und geh zuerst hin, versöhne ich mit deinem Bruder – mit anderen Worten: gestehe deine Schuld ein und bitte ihn um Verzeihung – und dann komm und bringe deine Gabe dar.

Mt 18,21-35 nimmt dann die andere Partei in Blick: Jesus erzählt das Gleichnis von einem Mann, dem der König eine grosse Schuld vergeben hat, der dann aber seinem Mitknecht nicht vergeben will. Das Gleichnis zeigt: Das geht gar nicht. Seid barmherzig und vergebt einander wie Gott in Jesus Christus euch vergeben hat (Eph 4,32; Kol 3,13).

Monika Riwar hat evangelische Theologie studiert und Ausbildungen in Seelsorge/Beratung, Supervision und Erwachsenenbildung absolviert. Sie arbeitet seit über 25 Jahren im Bereich Seelsorgeausbildung und Beratung, auch mit Seminaren. Beim Bildungszentrum für christliche Begleitung und Beratung Schweiz bcb hat sie die fachliche Leitung inne.